Unterm Strich bringt die Digitalisierung nur Vorteile

Neue Technologien sind immer auch mit tiefgreifenden Veränderungen verbunden. Man denke nur an das Internet. Vor zwanzig Jahren wurde es noch belächelt, heute ist es allgegenwärtig. Klar hat es Veränderungen ausgelöst. Da muss man nur den Einzelhandel fragen. Aber es hat auch völlig neue Möglichkeiten, Geschäftsmodelle und Berufsfelder geschaffen. Mit den aktuellen Buzzwords Digitalisierung, Big Data und Automatisierung wird es nicht anders ablaufen. Dazu ein Beispiel aus dem Automotive-Bereich.

Als ich zum ersten Mal ins VW-Werk Emden kam, herrschte dort noch ein ohrenbetäubender Lärm. Überall rasselten Kettenförderer und das Tackern der Pressluftschrauber war allgegenwärtig. Doch es stand ein neues Passat-Modell an und das sollte in einer völlig neuen Fertigungslinie gebaut werden. Das Automationssystem dafür lieferte Siemens. Meine Aufgabe war es, in einer Success Story zu beschreiben, wie digitale Prozesse den Produktionsablauf verbessern und die Qualitätssicherung auf ein neues Niveau heben. 

Ein Beispiel ist mir heute noch im Gedächtnis und das war die sogenannte Hochzeit. Im Automotive-Bereich bezeichnet man damit den Arbeitsschritt, bei dem die Karosserie und das Fahrgestell eines Fahrzeugs miteinander verschraubt werden. 

Bisher lief das so ab: das Fahrgestell kam ebenerdig angefahren. Die Karosserie schwebte über einen Kettenförderer heran und wurde genau darüber positioniert. Dann zischte die Hydraulik und das Fahrgestell wurde angehoben. Ein gutes Dutzend Männer sprangen herbei und machten sich mit Pressluftschraubern ans Werk, um beide Fahrzeughälften unverrückbar miteinander zu verschrauben. 

Das Ganze war nicht nur mit einem ohrenbetäubenden Lärm verbunden. Es erforderte auch ein äußerst anstrengendes Arbeiten über Kopf. 

Das Kontrastprogramm lief direkt daneben ab. Auch hier ging es um die Hochzeit. Aber von Lärm war hier nicht mehr viel zu spüren, denn hier gab es weder Hydraulik noch lärmende Kettenförderer oder gar nervige Pressluftschrauber. Die Karosserie kam über ein elektrisches Förderband an. Zu hören war dabei lediglich das Surren von Elektromotoren. Das Fahrgestell wurde auf einem Hilfsträger herangefahren, auf dem bereits alle Komponenten von Fahrwerk bis zum Motor und allen Nebenaggregate vormontiert waren. Die Hochzeit selbst verlief völlig unspektakulär. Anstelle von Pressluftschraubern traten nämlich kleine Elektromotoren in Kraft, die unter ihrem charakteristischen Singsang gefühlte hundert Schrauben eindrehten. 

Menschen waren an dem gesamten Vorgang keine beteiligt. Bis auf einen und der hatte nichts anderes zu tun, als am Ende des Prozesses einen Blick auf ein Display zu werfen. Waren da nur grüne Punkte zu sehen, war alles in Ordnung und das Fahrzeug konnte die nächste Montageposition anlaufen. Leuchtete irgendwo ein roter Punkt auf, wurde eine Weiche gestellt und es ging erst mal auf ein Nebengleis. Dort standen drei Mitarbeiter bereit, die auf ihrem Display genau sehen konnten, wo etwas nicht richtig geklappt hatte. Sie sahen sich das Problem an und brauchten meist nur wenige Handgriffe, um es zu beseitigen. In aller Regel war nämlich nur eine Schraube verkantet oder nicht fest genug angezogen worden. 

Der Wechsel von der jahrelang üblichen mechanischen Lösung zur voll elektrischen Montage sparte nicht nur eine Reihe von Arbeitsplätzen ein, die vermutlich ohnehin niemand gerne gemacht hat. Es war auch ein gewaltiger Schritt zur Verbesserung der Produktqualität. 

Ein Mensch macht Fehler. Wer im Laufe des Tages schon tausend Schrauben eingedreht hat, entwickelt dabei eine gewisse Routine und schaut irgendwann nicht mehr so genau hin. Die Folge ist, dass nicht jede einzelne Schraube mit genau dem richtigen Drehmoment angezogen wird. Einige wurden vielleicht sogar verkantet, aber von der brutalen Kraft des Pressluftschraubers dennoch in Position gezwungen. Das Ergebnis sind Mängel, die  bei der Montage nicht unbedingt auffallen, aber irgendwann später zu lästigen Werkstattbesuchen oder gar Unfällen führen können.  

Schrauben elektrisch statt mit Pressluft einzudrehen, mag zwar nicht nach einer technologischen Revolution klingen. Aber wenn man sieht, was dahinter steckt, sieht das Bild völlig anders aus. Ein Pressluftschrauber kann nämlich immer nur eines: Schrauben eindrehen. Ob die Schraube auch wirklich richtig festgezogen ist, lässt sich nicht überprüfen. Bei einem Elektroschrauber hingegen kann man bei jeder einzelnen Verschraubung genau nachmessen, mit welchem Drehmoment die Schraube angezogen wurde. Dies geschieht durch Messung des Stromflusses, der genaue Auskunft über die mechanischen Kräfte gibt, die der Schrauber ausgeübt hat. Eine nicht ganz feste Schraube wird da sofort erkannt und eine verkantete Schraube erst recht. Das ist Qualitätssicherung direkt während der Montage.

Doch das ist noch lange nicht alles.

Elektrische Messwerte lassen sich problemlos digitalisieren - und genau das macht die eigentliche Revolution aus. Wenn nämlich jeder einzelne Schraubvorgang erfasst wird, entsteht eine umfassende Qualitätsdokumentation über alle Montagevorgänge eines Fahrzeugs. Und die kann noch Jahrzehnte nach Produktion eines Fahrzeugs Auskunft darüber geben, ob zum Beispiel ein Unfall auf Produktionsmängel zurückzuführen war oder ganz andere Gründe hatte. 

Wer hier also nur den Wegfall von Arbeitsplätzen beklagt und die Digitalisierung dafür verantwortlich macht, denkt zu kurz. Dieses kleine Beispiel ist nämlich typisch dafür, wie heute Automatisierung, Digitalisierung und Big Data zusammenspielen, um Produktionsprozesse zu verschlanken und gleichzeitig die Produktqualität zu heben.